Galeriebrief 3/2010

26. August bis 20. Oktober 2010

Richard Tuttle (1941* Rahway, New Jersey) A Drawing Retrospective.

Samuel Beckett nennt den Kommentar zur Kunst ein Beruhigungsmittel (S.B. Das Gleiche nochmals anders. Texte zur Bildenden Kunst 2000). Richard Tuttle schätzt das Kunstgespräch. Er spricht gern in seinen Ausstellungen vor den Werken. Seine Kommentare entkräften und bestätigen die kluge Bemerkung von Beckett, indem sie paradoxe Umwege einschlagen und mit ihrer Differenziertheit und Ausführlichkeit beunruhigen und irritieren. Wege und Umwege, wenn Tuttle schafft und wenn er spricht ist er immer unterwegs. Wichtig ist, dass diese Gratwanderungen auf unbekanntes Territorium führen. Wer sich darauf einlässt tut dies auf eigenes Risiko, denn Sicherheiten werden keine gewährt.

Die Sprache, gesprochen, geschrieben, hat üblicherweise die fatale Tendenz, Bedeutung vorwegzunehmen, Verstehen vorzutäuschen, sich vor die Werke zu schieben. Die gut gemeinte Botschaft oder die symbolische Ersatzhandlung werden mehr und mehr als Ursprung und genügende Legitimation künstlerischen Ausdruckswillens geortet. Solche Gesten begleiten oder antizipieren angeblich das globale Weltgeschehen. Dieser plausible Reduktionismus, der es erlaubt, aus lauter Fussnoten ganze Entwicklungsstränge zu extrahieren, entfernt das Artefakt als das eigentlich Vorhandene aus dem Fokus der Aufmerksamkeit.

Richard Tuttle ist der Antipode einer solchen Kunstauffassung und Geschichtsstrategie. Ausgerechnet mit seinen feinen, verletzbaren Arbeiten schafft er Tatsachen einer anderen Art. Ihre merkwürdige Genauigkeit verdanken die Werke einem Tun, das jeden Vorgang reflektiert und registriert. Metaphorisch lassen sie sich nicht entziffern und sie verbleiben gleichsam in einem Zustand der Andeutung, verweisen auf ihre Transzendenz. Die seltsamen Dinge oder Notate beanspruchen nichtsdestoweniger volle Aufmerksamkeit. Das genaue Sehen, die genaue Beobachtung all dessen, was hier auf kleinem Raum vorhanden ist, sind die Voraussetzung für eine angemessene Rezeption dieser Kunst.

Jede neue Werkgruppe von Richard Tuttle löst sich langsam aus einer ersten Phase ohne jede Kunstwahrscheinlichkeit. Ist es eine Gewissheit, dass Kunst immer wieder dort beginnen  muss, wo (noch) nicht Kunst ist? Jedenfalls ist es für den Künstler harte Arbeit, ein erstes materielles Konstrukt an ein nur ihm eigenes Feld der Zeichen zu binden. Oder, genauer gesagt, Material, Form und Zeichen bilden letztlich im Werk eine Einheit, jeder Aspekt verdankt seine Gestalt den anderen Aspekten.
Drawing – Zeichnung, zeichnen, Richard Tuttle meint, dass sich diesem Begriff, dieser Tätigkeit sein ganzes Schaffen unterordnen lässt. ‚Drawing‘ darf nur nicht als Konvention oder angelernte Fähigkeit verstanden werden. So macht es Sinn, dass unsere Ausstellung Zeichnungen und Arbeiten auf Papier aus über vierzig Jahren vorstellt und die überragende Bedeutung des Zeichners Richard Tuttle belegt.
Im Mai 1974 fand die erste Ausstellung von Richard Tuttle bei Annemarie und Gianfranco Verna statt. Mit dieser Zeichnungs-Retrospektive sind es siebzehn Einzelpräsentationen des Künstlers geworden. Viele Publikationen zum Werk und eine Anzahl von Artist’s Books haben die Zusammenarbeit begleitet.

Spätestens seit der grossen Retrospektive, die von Madeleine Grynsztejn für das San Francisco Museum of Modern Art, 2005, erarbeitet wurde und die bis 2007 von bedeutenden amerikanischen Museen in New York, Des Moines, Dallas, Chicago gezeigt wurde, stehen Einfluss und Rang von Richard Tuttle fest. Doch lässt sich das Phänomen Richard Tuttle nie definitiv eingrenzen. Dies beweisen die neuen Werke in unserer Ausstellung.

16. November 2008 – 2033
Sol LeWitt
A Wall Drawing Retrospective

Yale University Art Gallery und Williams College Museum of Art